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Titel
Eingriffe ins Leben. Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920 – 1950)


Autor(en)
Hauss, Gisela; Ziegler, Béatrice; Cagnazzo, Karin; Gallati, Mischa
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
URL
von
Pascal Germann

Der Band präsentiert erstmals eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt Städtische Fürsorge im Netz der Eugenik, das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms Integration und Ausschluss vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde. In sorgfältigen Analysen eines umfangreichen Quellenmaterials rekonstruieren die Autoren und Autorinnen «Fallgeschichten, in denen Fachleute aus Fürsorge und Psychiatrie in das Leben von Menschen eingriffen» (S. 9). Ein zentrales Erkenntnisinteresse gilt dabei der Frage, welche Rolle die Eugenik bei der Begründung und Umsetzung fürsorgerischer Massnahmen spielte.

Die Beiträge fokussieren auf die beiden Städte Bern und St. Gallen, die im Vergleich zu den besser erforschten «roten» Städten Zürich und Basel viel stärker bürgerlich geprägt waren. Das Buch leistet einen wichtigen, empirisch fundierten Forschungsbeitrag zur Geschichte der Fürsorge in der Schweiz. Zudem bietet es im Hinblick auf die historische Aufarbeitung von Eugenik und Sterilisationspraktiken eine wesentliche Ergänzung zu Untersuchungen, die Zürich, Basel oder die Westschweiz behandeln.

Gisela Hauss untersucht in ihren beiden Beiträgen die städtische Fürsorge und die Praxis der Vormundschaft in der Stadt St. Gallen. Da kommunale Verwaltungsstrukturen im konservativ und bürgerlich dominierten St. Gallen nur schwach ausgebaut waren, blieben fürsorgerische Strukturen wie Vormundschaftswesen, Armenverwaltung oder Jugendschutz stark durch private Initiativen und ehrenamtliche Kräfte bestimmt, wie Hauss überzeugend herausarbeitet. Im Hinblick auf behördlich geforderte Sterilisierungen zeigt sie, wie psychiatrische, sexualmoralische und finanzielle Argumente bei den Begründungen oftmals verschmolzen, während explizit eugenische Begründungen selten waren.

Mischa Gallati untersucht in zwei Aufsätzen die Vormundschaft und Jugendfürsorge in der Stadt Bern. In einer quantitativen Auswertung von Vormundschaftsprotokollen zeigt der Autor, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine enorme Zunahme von Vormundschaftsfällen zu verzeichnen war. Sterilisierungen und Kastrationen waren zwar wesentlich seltener, gehörten aber – wie Gallati nachweist – seit Mitte der 1930 er-Jahre ebenfalls «zum gängigen Repertoire der Stadtberner Vormundschaftsund Fürsorgepraxis» (S. 127). Seine von ihm rekonstruierten Fallgeschichten zeigen zudem eindrücklich, wie gross der Spielraum von Behörden und einzelnen Beamten war, um Massnahmen wie Kindswegnahmen, Versorgungen oder auch Sterilisierungen und Kastrationen durchzusetzen, wiewohl sie sich dabei «in einem rechtlichen Graubereich» (S. 126) bewegten.

Karin Cagnazzo untersucht in ihren beiden Beiträgen die Sterilisationspraxis im Kanton Bern. Zunächst beleuchtet sie die institutionellen Grundlagen der Sterilisationspraxis und stellt eine enge Zusammenarbeit zwischen kantonalen Behörden, kommunaler Armenfürsorge, Ärzteschaft und Psychiatrie fest. In ihrer Analyse von psychiatrischen Gutachten unternimmt die Autorin eine Typisierung von Sterilisationsfällen. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Roswitha Dubachs Studie zu Zürich kommt Cagnazzo zum Schluss, dass der häufigste Typ Frauen mit einem Abtreibungswunsch betraf, wobei Sterilisationen oft von Ärzten empfohlen oder gar mit Druckmitteln durchgesetzt wurden.

In einem eher knapp gehaltenen Schlusswort beziehen Béatrice Ziegler und Gisela Hauss die Ergebnisse der empirischen Studien aufeinander und skizzieren einige weiterführende Überlegungen. Wie aufschlussreich die beiden Fallbeispiele St. Gallen und Bern für eine noch ausstehende Synthese zur Geschichte der Fürsorge in der Schweiz sind, verdeutlicht eine übergreifende These des Buches. Überzeugend argumentieren Hauss und Ziegler, dass der Ausbau sozialstaatlicher Strukturen keine «allgemeingültige Voraussetzung» (S. 186) für eine interventionistische – auch eugenisch legitimierte – Fürsorgepolitik bildete. Vielmehr zeigen die hier präsentierten Untersuchungen in Übereinstimmung mit anderen Forschungen, wie sich eugenische und disziplinierende Fürsorgepraktiken in der Schweiz gerade unter Bedingungen eines schlecht ausgebauten Sozialstaats und unter Mitwirkung privater Institutionen entwickelten. Mithin entkräften die hier präsentierten Fallstudien die These eines engen Konnexes zwischen Ausbau des Sozialstaats und Eugenik, wie ihn etwa Veronique Mottier für die Schweiz behauptet hat.

Zwei kritische Anmerkungen betreffen begriffliche und konzeptionelle Überlegungen. Erstens stellt sich die Frage, ob das Konzept der Sozialdisziplinierung, das in der Einleitung als «zentraler Ausgangspunkt» und «unhintergehbare Referenz» bezeichnet wird, nicht einen zu engen Erklärungsrahmen bietet für das breite Spektrum von Fürsorgemassnahmen und Diskursen, wie es in den empirischen Fallstudien greifbar wird. Inwiefern waren auch alternative Konzepte des «Regierens», welche die rein disziplinierenden Ansätze konkurrenzierten, handlungs- und argumentationsrelevant? Inwiefern schufen fürsorgerische Massnahmen und Strukturen auch Möglichkeitsräume und Handlungsoptionen für die Betroffenen? Eine zweite Anmerkung betrifft den Begriff der Eugenik, der bisweilen unscharf bleibt und an einigen Stellen eine ziemlich extensive Bedeutung erhält. So urteilt Gisela Hauss beispielsweise, die «Einteilung der Bevormundeten » in Therapier- und Untherapierbare entspreche «einem eugenischen Denken» (S. 81). Eine solch ausgeweitete Verwendung des Eugenikbegriffs ist meines Erachtens problematisch, da so analytische Differenzierungen verloren zu gehen drohen.

Die Stärke des Bandes liegt in den empirisch fundierten Fallstudien. Auf überzeugende Weise analysieren die Autorinnen und der Autor die komplexen Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlich-medizinischen Diskursen, gesellschaftlichen Normalitätserwartungen, moralisch-pädagogischen Vorstellungen, institutionellen Logiken und finanziellen Sparanforderungen einerseits und den eingeengten Handlungsspielräumen derjenigen, die von den behördlichen Praktiken betroffen waren, andererseits. Damit leisten sie einen wesentlichen Forschungsbeitrag zur historischen Aufarbeitung fürsorgerischer Massnahmen in der Schweiz.

Zitierweise:
Pascal Germann: Rezension zu: Hauss, Gisela; Ziegler, Béatrice; Cagnazzo, Karin; Gallati, Mischa: Eingriffe ins Leben: Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920 – 1950). Zürich: Chronos 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 69-71.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 69-71.

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